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Titel
Neue Unternehmer braucht das Land. Die Genese des ostdeutschen Mittelstands nach der Wiedervereinigung


Autor(en)
Trecker, Max
Reihe
Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yassin Abou El Fadil, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Kaum ein Themenkomplex der deutschen Zeitgeschichte wurde in den vergangenen Jahren in der medialen Öffentlichkeit intensiver diskutiert als die Frage nach Erfolgen und Misserfolgen der Transformation der ostdeutschen Planwirtschaft nach der Wiedervereinigung. Erst seit kurzem können die Debatten über die Bilanz der Wiedervereinigung vermehrt auch auf substanzielle historisch-empirische Studien zurückgreifen, die eine Einordnung jenseits der bereits von den Zeitgenossen in den 1990er-Jahren entwickelten Narrative ermöglichen.1 Während bisherige Arbeiten speziell die Treuhandanstalt und den Umbau der DDR-typischen Kombinatsstrukturen in den Vordergrund ihrer Betrachtung rückten, blieb eine Analyse der Transformation des insgesamt von der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte bislang sträflich vernachlässigten DDR-Mittelstands weitestgehend aus. Als jüngste Veröffentlichung im Rahmen des Treuhand-Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte widmet sich nun der Leipziger Zeithistoriker und Osteuropaexperte Max Trecker diesem Teilaspekt der ostdeutschen Transformationsgeschichte.

In einer Querschnittstudie betrachtet Trecker eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure, die für den (Wieder-)Aufbau und Erhalt mittelständischer Strukturen in Ostdeutschland nach 1990 als zentral angesehen werden können. Neben der notorischen Treuhandanstalt – der ihrer Bedeutung entsprechend das größte Hauptkapitel gewidmet wurde – werden die Rolle der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und der Handelskammern sowie exemplarisch die Landesregierungen von Sachsen, Thüringen und Brandenburg in gesonderten Kapiteln betrachtet. Gerahmt wird dieser institutionenfokussierte Kern der Arbeit von zwei vorgelagerten Kapiteln, die sich mit Ausgangslage, Entwicklung und Teilverstaatlichung des ostdeutschen Mittelstandes in der DDR-Zeit befassen und erste Konzepte zur Re-Privatisierung verstaatlichter Unternehmen während der reformkommunistischen Modrow-Regierung in den Blick nehmen. Das abschließende Kapitel analysiert als mikrohistorisches Fallbeispiel detailliert die Privatisierung des mittelständischen Unternehmens Kjellberg Finsterwalde.

Neben den umfangreichen Archivbeständen zur Treuhandanstalt aus dem Bundesarchiv sowie Akten aus dem KfW-Konzernarchiv kann die Studie zudem auf neuerdings erschlossene Bestände des thüringischen Landesarchives zurückgreifen, um auch das institutionelle Umfeld der Landesregierung genauer zu betrachten. Ergänzt wird der Primärquellenbestand durch diverse Zeitzeugeninterviews, die Trecker mit verschiedenen am Privatisierungsprozess beteiligten Akteuren geführt hat. Eine gesammelte Auflistung der geführten Gespräche im Anhang wäre dabei zu einer besseren Orientierung wünschenswert gewesen.

Die einschlägige geschichtswissenschaftliche Literatur zur deutschen Transformationsgeschichte sowie die wichtigsten Eckpunkte der historischen Mittelstandsforschung werden in der Studie umfangreich berücksichtigt. Die Arbeit von Marcus Böick zur Treuhandanstalt sowie Philip Thers „Kotransformationsthese“ bilden den indirekten und direkten Referenzrahmen, da auch Treckers Studie eine ideengeschichtliche Einordnung der privatisierungs- und mittelstandspolitischen Konzepte der west- und ostdeutschen Akteure anstrebt.2 Die analytische Einordnung der Treuhand und ihres Führungspersonals eher als überforderte, oftmals situativ agierende Privatisierungsagentur denn als neoliberaler Überzeugungstäter ist weitgehend plausibel. Trecker verweist dabei einerseits auf die mitunter unzureichende Differenzierung des Begriffes „Neoliberalismus“ im Zuge bisheriger Transformationsdebatten (S. 178f.), betont aber zurecht auch die soziökonomischen Kollateralschäden, die die Treuhand in Kauf nahm. Dennoch bleibt die Frage, wie zielführend diese ideengeschichtliche Einbettung der Arbeit schlussendlich ist. In der kompakten, fast 300 Textseiten umfassenden Studie nimmt die Auseinandersetzung mit Thers These zur Kotransformation letztlich doch nur sehr begrenzten Raum ein, wurde in ihrer Form bereits an anderer Stelle formuliert und findet auch in der zweiten Hälfte und dem Fazit der Studie kaum Erwähnung.3

Auch die Frage nach den ideengeschichtlichen Ursprüngen von Privatisierungspraxis und Mittelstandskonzeptionen rückt zunehmend in den Hintergrund der Analyse. Damit entsteht der Eindruck, dass ein Teil der für die Hinführung zu diesen Aspekten aufgewendeten Seiten auch eine vertiefende Betrachtung anderer Punkte erlaubt hätte, die die bei weitem überwiegenden Stärken der Studie noch weiter betonen würde. So hätte die detaillierte Darstellung eines zweiten Unternehmensfallbeispiels aus einer traditionellen Mittelstandsregion wie Sachsen oder Thüringen im Vergleich mit der Brandenburger Kjellberg Finsterwalde Treckers spannende Thesen zu unterschiedlichen Integrationsstrategien und Voraussetzungen der verschiedenen regionalen Akteursgruppen in den jeweiligen, ökonomisch disparaten Landesteilen auch auf der Mikroebene weiter unterstreichen können.

Treckers detaillierte Darstellung der regional unterschiedlichen historischen Vorbedingungen des Mittelstands in den verschiedenen Landesteilen sowie der divergierenden Erwartungshaltungen der jeweiligen Landesregierungen und ihres Umgang mit der Treuhand als Privatisierungsagentur schließt dennoch eine Vielzahl von Leerstellen in der bisherigen Forschung. Dem eigenen Anspruch auf eine differenzierte Betrachtung, die der Komplexität des Prozesses gerecht wird, ohne die „publizistischen Schwarz-Weiß-Narrative der 1990er-Jahre zu replizieren“ (S. 33), wird der Autor dabei vollumfänglich gerecht. Die unrealistisch hohen Erwartungshaltungen fast aller politisch Verantwortlichen seit der Modrow-Regierung in die ökonomische Potenz des verbliebenen ostdeutschen Mittelstands werden ebenso eingeordnet wie die in der historischen Rückschau als Fehlkalkulation zu wertende Zurückhaltung der Treuhandanstalt, (Re-)Privatisierungen mittels Management-Buy-out- oder Buy-in-Strategien im Transformationsprozess aktiver zu fördern.

Darüber hinaus profitiert die Studie vom profunden Wissen des Osteuropahistorikers. Ganz im Sinne einer zeitgemäßen Transformationsforschung bezieht Trecker immer wieder partielle Vergleiche mit den Entwicklungen in den Transformationsökonomien Polens und Tschechiens in seine Analyse ein. Die historische Einzigartigkeit des in Teilen noch vorhandenen privaten Mittelstands eines RGW-Staates und dessen Überführung in eine bestehende westdeutsche Marktwirtschaft wird dadurch weiter unterstrichen.

Trecker gelingt es somit, sich in jüngste Beiträge zur Transformationsgeschichte einzureihen und darüber hinaus einen sehr gut geschriebenen und unbedingt lesenswerten ersten Beitrag zur historischen Mittelstandsforschung über die DDR zu liefern, der zeigt, dass die Wiedervereinigung für den ostdeutschen Mittelstand keinesfalls eine „Stunde null“ darstellte (S. 297). Vielmehr waren die über Jahrzehnte gewachsenen, komplexen intraindustriellen Beziehungen ostdeutscher kleiner und mittelgroßer Unternehmen mit einem ineffizienten Kombinatssystem, welche von den verantwortlichen Akteuren im Privatisierungsprozess weitreichend ignoriert worden waren, einer von vielen Ausgangspunkten, die den Aufbau resilienter mittelständischer Strukturen in den ostdeutschen Bundesländern bis in die Gegenwart hinein erschwerten.

Anmerkungen:
1 Neuste Beiträge sind u.a. Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994, Göttingen 2018; sowie die Werke aus der Reihe zur Geschichte der Treuhandanstalt des Instituts für Zeitgeschichte. Herausgegeben von Dierk Hoffmann, Hermann Wentker und Andreas Wirsching, https://www.ifz-muenchen.de/publikationen/reihen (05.12.2022).
2 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; Böick, Die Treuhand, 2018.
3 Treckers Kritik des „Neoliberalismus“-Begriffs finden sich u.a. auch bei Frank Bösch, Rezension zu: Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, 27.01.2015, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21580.

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